Wir brauchen positive und negative Ausschläge im Leben. Denn wir bewegen uns sonst auf der Nulllinie und verlieren die Verbindung zu uns selbst…
Meine Hände schwitzen und mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich zittere und traue mich nicht, nach unten zu schauen. Wer hatte nochmal diese beschissene Idee, mit dem Freizeitpark und dem Freifallturm? Mist, ich war es selbst. Nun hänge ich 70 Meter über der Erde und werde in ein paar Sekunden mit über 90 Stundenkilometern gen Boden stürzen. Auch meine Freundin neben mir wimmert.
Ich schreie ihr aufmunternd zu: „Atme in die Angst“ und meine eigentlich mich selbst. Dann konzentriere ich mich und ignoriere meine Angst. Ich atme ein paarmal ganz tief in meinen Bauch, während die Sitze sich hübsch drehen. Wir sollen die Aussicht genießen – ich lache über diese Ironie. Doch das tiefe Atmen hilft wirklich. Nach dem dritten Atemzug schaffe ich es sogar, meinen Blick kurz aufzurichten. Dann klickt es und wir fallen herunter…
Innere Leere trotz äusserer Fülle
Wann hast du das letzte Mal so viel Angst verspürt, dass deine Knie weich wurden? Oder dich so kringelig gelacht, dass dein Bauch schmerzt? Lass mich raten, ist schon länger her – stimmt’s? Ich beobachte sehr viele Menschen, die sich fast ausschließlich auf der Mittellinie des Lebens bewegen – ohne Ausschläge nach oben oder unten. Nach außen stets angepasst, innen Gefühlsneutral.
Das Problem mit der Nulllinie ist: Wir verlernen zu Fühlen. Denn negativen Gefühlen gehen wir gerne aus dem Weg. Doch ohne die Dunkelheit, wissen wir auch die Helligkeit nicht zu schätzen. Das Leben wird grau. Diese innere Farblosigkeit und Leere ist fast schlimmer zu ertragen, als negative Gefühle. Solltest du Schwierigkeiten haben, deine Gefühle zu fühlen, gibt es verschiedene Techniken wie du Zugang zu ihnen bekommst. Drei Wege die ich selbst regelmäßig anwende, teile ich heute mit dir:
/ Verrückte Dinge tun
Der Freizeitpark ist nur eine Möglichkeit, einfach mal wieder etwas völlig anderes zu tun oder deine Komfortzone zu weiten. Um Angst bei mir hervorzurufen, funktioniert Höhe gut – denn ich habe unglaubliche Höhenangst. Doch stelle ich mich diesen Ängsten, schütte ich im Anschluss so viele Glückshormone aus, dass ich gefühlt zwei Wochen lang grinse wie ein Honigkuchenpferd.
Einladung an dich:
Was kannst du tun, um deine Nulllinie mal wieder so richtig in beide Richtungen ausschlagen zu lassen? Bei welcher Tätigkeit kannst du mal wieder Kind sein? Mittlerweile sehe ich meine Angst als Freund. Denn je näher ich mich am Rand meiner eigenen Panikzone bewege, desto stärker wachse ich. Und desto stolzer bin ich hinterher auf mich selbst. Daher suche ich mir immer wieder bewusst Situationen, die mich herausfordern. Dann fühle mich besonders lebendig, und finde: Das Leben ist keine Nulllinie. Dafür ist es einfach nicht da. Also, was tust du?
/ Gefühle reflektieren
Negative Gefühle kommen nicht immer angemeldet. Häufig stehen sie in den unpassendsten Momenten vor der Tür. Ein erster unbewusster Reflex ist dann oft, dieses Gefühl zu betäuben. Das kann auf unterschiedliche Art und Weise geschehen: Durch Frustkäufe, Alkoholkonsum, Drogen, Fernsehen, Freunde treffen, schnelles Reisen oder intensives Kümmern um andere.
Einladung an dich:
Kreiere dir ein tägliches oder wöchentliches Ritual und gehe mit dir selbst in Zeremonie. Reflektiere darin deinen Tag oder deine Woche und achte ausschließlich auf deine Emotionen. Frage dich:
- Wie steuern meine Gedanken meine Gefühle?
- Welcher Gedanke lässt mich augenblicklich schlecht oder gut fühlen?
- Wie lenke ich mich von negativen Gefühlen ab?
Schreibe dann deine Erkenntnisse und Gedanken auf. Bist du noch nicht so geübt darin, fällt dir dies vielleicht schwer. Verurteile dich nicht dafür. Vertraue dir stattdessen, denn das kannst du super üben. Und du weißt ja: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Tust du das regelmäßig, wirst du immer schneller an dein Gefühl rankommen und dir bewusster über deine Gedanken. Schreibst du ein Datum in dein Journal dazu, kannst du später deine Fortschritte leichter nachvollziehen – und mächtig stolz auf dich sein.
/ Beobachter sein
Häufig bleiben wir energetisch in negativen Situationen gefangen. Wir haben Schwierigkeiten sie loszulassen und schleppen diesen unsichtbaren Ballast mit uns rum. Dadurch, dass wir immer mal wieder an diese Situation denken oder anderen davon erzählen, rufen wir erneut negative Gefühle ab. Das zieht uns energetisch immer wieder runter und wir ziehen damit auch Menschen in unser Leben, denen es ähnlich geht.
Einladung an dich:
Stelle dir eine Situation vor, in der du starke negative Emotionen hattest – zum Beispiel einen Streit. Lasse diese Situation noch einmal innerlich Revue passieren. Anstatt nun in das negative Gefühl einzutauchen, bleibe diesmal Beobachter. Sei ein Außenstehender, so als wärst du gar nicht involviert. Betrachte die Situation vor deinem inneren Auge wie ein Schauspiel. Fiebere mit und fühle dich in alle anwesenden Akteure hinein. Versuche zu verstehen, warum alle Beteiligten so handeln wie sie handeln: Wo kommen sie her und welche Verhaltensweisen haben sie vielleicht von ihren Eltern übernommen?
Durch diese Technik identifizierst du dich nicht länger mit deinen negativen Gefühlen. Setze noch eine Stufe drauf und stelle dir vor, dass alle Beteiligten gerade bereits ihr Bestes geben und nicht in der Lage sind, noch mehr zu geben. Aus dieser Haltung und deiner neuen Beobachterposition fällt es dir viel leichter, zu vergeben und zu erkennen, dass wir uns im Kern das gleiche wünschen: Liebe.
Vom Kopf ins Herz
In unser Gesellschaft hat die Angst nicht viel Platz. Die Werbeplakate sind voll von glücklichen Menschen. Wir assoziieren Glück mit Freude und fühlen uns schlecht, wenn wir mal nicht happy sind. Ich dagegen glaube, Glück bedeutet, alle Gefühle zu lieben – die Positiven wie die Negativen. Es ist unser eigenes Bewertungssystem, das aus einem neutralen Gefühl ein gutes oder schlechtes macht. Unabhängig davon, macht es keinen Sinn nur einen Teil zu fühlen und den anderen zu unterdrücken. Um uns vollständig zum Ausdruck zu bringen und authentisch zu sein, ist es unabdingbar, alles was da ist anzunehmen und auch zu Teilen. Du merkst: Gefühlsausschläge nach oben oder unten sind super wichtig. Tänzeln wir auf der Nulllinie oder fehlt eine der beiden Seiten, kippt die Waage und das Leben ist nur halb so schön.
Gefühle zuzulassen ist manchmal gar nicht so leicht. Was hilft dir?
Fotos: Bernard Hermant