Ein Stilbruch in der Einrichtung ist genauso wichtig, wie das Ausleben all unserer unterschiedlichen Anteile. Ein Plädoyer für mehr Individualität und Mutausbrüche im Leben.
Eine lange Zeit meines Lebens habe ich mich als Interior-Stylistin mit Einrichtungs-Trends beschäftigt und damit, wie man Räumen Leben einhaucht und ihnen Persönlichkeit gibt. Das wichtigste Merkmal für einen individuellen, ungewöhnlichen Look, ist ein Bruch. Also der Mix verschiedener Materialien oder Stilrichtungen, die, auf den ersten Blick, nicht so recht zum Rest passen wollen. Ihm aber, auf den zweiten Blick, Individualismus und Persönlichkeit verleihen: Der schrabbelige Vintage-Stuhl von der Oma, mit dem man so viele Kindheitserinnerungen verbindet – der farblich und stilistisch zwar überhaupt nicht passt, der jedoch dem reduziert eingerichteten Raum das gewisse Etwas verleiht.
Ob minimalistisch oder pompös: Genau diese Brüche sind es, die einem Raum Eigenwilligkeit geben. Und ihn so nicht nur zu einem Quell der Inspiration, sondern auch zu einem Kraftplatz machen. Denn genau durch diese Brüche, entsteht Individualität. Durch Individualität wiederum, entsteht Persönlichkeit. Und durch Persönlichkeit, entsteht ein Gefühl, welches im Raum ausgelöst wird. All diese Punkte lassen sich auch super ins Leben übertragen.
Mut zur Andersartigkeit
Ich habe mittlerweile die Branche gewechselt. Doch mein über die Jahre geschulter Blick bleibt. Der Stellenwert von Dingen, sowie meine Haltung dazu, haben sich komplett verändert. Die Anzahl meiner Besitztümer habe ich ebenfalls drastisch reduziert. Doch meine Liebe für Details, puristisches Design und Brüche, die bleibt. Dazu hat sich mein Fokus verschoben: von außen nach innen. Und weil dem so ist, habe ich in den letzten Jahren eine weitere Veränderung an mir festgestellt: Vieles da draußen langweilt mich. Gehe ich durch die Straßen, blättere ich durch Magazine oder schaue mich in den sozialen Netzwerken um: So viel sieht ähnlich aus, Einheitsbrei par excellence.
Schon länger ist Minimalismus ein Trend. In einer übersättigten Welt, sehnen sich die Menschen nach innerer Ruhe und mehr Fokus. Das spiegelt sich überall wieder: In der Architektur, dem Interior-Design oder der Mode. Aber auch auf Webseiten und in Social-Media-Accounts mag man es klar. Theme-Hersteller für Webdesign setzen auf minimalistische Optik und Baukastensysteme, die die Nutzung vereinfachen. Der Nebeneffekt ist jedoch auch hier: Gleichförmige Einheit, wohin man schaut. Vorlagen und Filter für Instagram und Co zaubern zwar schnell hochwertige Bilder, sorgen jedoch auch hier für Uniformität und Austauschbarkeit.
Bitte versteh mich nicht falsch. Ich möchte weder missionieren, mich über andere erheben, noch kritisieren. Ich bin selbst überzeugter Minimalist und mag klares Design und reduzierte Formen. Daher bin ich auch froh, dass die Zeiten der animierten Gif’s oder bewegten Flash-Animationen auf Webseiten vorüber sind. Habe ich selbst früher programmiert. Und auch gewissen Möbel-/ oder Modetrends weine ich nicht hinterher. Hatte vieles davon – haben mich nicht glücklicher gemacht. Stattdessen liebe ich es seit vielen Jahren in all meinen Lebensbereichen puristisch und auf das Wesentliche reduziert.
Inspiration aus der Retorte
Dennoch frage ich mich: Wo bleibt die Individualität? Wo die Eigenwilligkeit im äußeren Ausdruck? Wo das Gefühl, wenn ich einen Laden betrete oder durch anonyme Einkaufsstraßen laufe, bei denen ich auf den ersten Blick nicht mehr erkenne, in welcher Stadt ich mich gerade befinde? Wo ist der Mut geblieben, anders zu sein? Der Mut, aufzufallen oder gegen den Strom zu schwimmen?
Ich nenne das „Starbuckisierung„. Egal in welcher Stadt: Alle Läden haben ein ähnliches Einrichtungskonzept. Das sorgt auf der einen Seite dafür, dass ich mich sicher fühle, zurechtfinde und genau weiß, was ich dort bekomme. Auf der anderen Seite sieht alles gleich aus und ich entdecke kaum Neues. Inspiration aus der Retorte. Tschüss Andersartigkeit. Tschüss Mut. Tschüss Kreativität.
Natürlich soll jeder so leben, sich kleiden oder einrichten, wie er es für richtig hält. Doch ich habe das Gefühl, dass nicht nur der äußere Ausdruck gleichförmiger wird. Auch im Inneren werden wir angepasster. Wir kopieren dann lieber andere, anstatt uns selbst zu zeigen. Wir plappern nach, anstatt uns eigene Gedanken zu machen. Und werden zu einem äußerlichen Abziehbild der Influencer – doch innerlich verkümmern wir wie eine Blume, die zu wenig Wasser bekommt. Bei all dem Orientieren nach außen vergessen wir häufig, wer wir selbst eigentlich sind. Oder was uns einzigartig macht.
Mutige Brüche und Mutausbrüche
Andersartigkeit führt zwangsläufig dazu, anzuecken. Denn sie stört die Harmonie und Gewohnheiten der Masse. Sie ist unbequem und nicht wirklich vorgesehen, in unserem System. Doch ist es nicht gerade diese Andersartigkeit, die uns als Individuen einzigartig macht? Die aus vielen kleinen Puzzleteilen, ein großes, buntes Menschheits-Puzzle zaubert, in dem jeder seinen festen Platz hat. Und durch sein individuelles Wirken das Bild noch schöner macht? Wo jeder – so wie er ist – gebraucht wird? Machen nicht gerade die Gegensätze das Leben spannend und abwechslungsreich?
Unterdrücken wir hingegen unsere Andersartigkeit und passen uns an, ersticken wir auch gleichzeitig einen Anteil in uns selbst. Doch auch dieser Anteil möchte gesehen und ausgelebt werden. Denn nur, wenn wir all unsere Anteile und Facetten zeigen und ausleben, fühlen wir uns vollkommen, zufrieden und suchen unser Glück nicht länger im Außen. Genau das ist doch Authentizität – sie ist echt und roh und holt die Verletzlichkeit aus ihrem Schattendasein.
Eine Gesellschaft voller Lemminge trägt nicht dazu bei, dass Dinge sich verändern. Dass wir soziale Verhaltens -/und Kommunikationsmuster aufbrechen oder uns noch mehr emanzipieren oder engagieren. Dazu brauchen wir Visionäre: Mutige Helden, die groß und anders denken. Die sich trauen, Dinge anzustoßen und umzusetzen. Die nichts darauf geben, was andere von ihnen denken. Die mutig ihren Weg gehen und gesellschaftliche Normen und sich selbst hinterfragen. Die sich zum Ausdruck bringen und all ihre Anteile ausleben – innen wie außen. Und die damit ein Vorbild für andere Menschen sind und Mut machen, sich selbst zu vertrauen: Wir brauchen mehr Ronja Räubertöchter. Mehr Peter Pans. Und mehr Pippi Langstrumpfs.
Ein Hoch auf mutige Brüche und Mutausbrüche im Leben. Und auf das Vertrauen in uns selbst und in andere, den eigenen Weg zu finden … Na, bist du dabei, im Team Mutausbruch?
„Hüte dich vor den Wilddruden und den Graugnomen und den Borkaräubern«, sagte er.
„Woher soll ich wissen, wer die Wilddruden und die Graugnomen und die Borkaräuber sind?“ fragte Ronja.
„Das merkst du schon“, antwortete Mattis.
„Na, dann“, sagte Ronja.
„Und dann hütest du dich davor, dich im Wald zu verirren“, sagte Mattis.
„Was tu ich, wenn ich mich im Wald verirre?“ fragte Ronja.
„Suchst dir den richtigen Pfad“, antwortete Mattis.
„Na, dann“, sagte Ronja.
„Und dann hütest du dich davor, in den Fluss zu plumpsen“, sagte Mattis.
„Und was tu ich, wenn ich in den Fluss plumpse?“ fragte Ronja.
„Schwimmst“, sagte Mattis.
„Na, dann“, sagte Ronja. „Sonst noch was?“
„O ja“, sagte Mattis. „Aber das merkst du schon selber so allmählich. Geh jetzt!“
(Astrid Lindgrens „Ronja Räubertocher“)
Erfahre hier 20 Fragen um dich selbst besser kennenzulernen, wie du dein Potential leben kannst, was Minimalismus mit Mut zu tun hat, 3 Einrichtungsideen für kleines Budget oder warum Andersartigkeit ein Geschenk ist.
Foto: Mehdi Sepehri